Gekränkte Freiheit
Auf der Basis einer prägnanten Analyse unserer Gesellschaft legen die beiden Soziologen eine faszinierende Studie über das Abdriften der so genannten Querdenker vor. Ein Versuch zu ergründen, warum Menschen abrutschen von einem Brett des Vertrauens und der Zugehörigkeit.
Schon derjenige liegt richtig, wenn er von dieser soziologischen Studie eine kompakte, aber begründete Analyse unserer modernen Gesellschaft erwartet. Alles, was Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa, Zygmunt Baumann, Nida-Rümelin und andere ausführlich belegt haben, wird auf den ersten 100 Seiten anschaulich zusammengefasst. Für Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey von der Universität Basel ist dies aber nur die Basis, auf der sie versuchen zu verstehen, wie Teile der Gesellschaft herausrutschen konnten aus der Gemeinschaft und sich nun quer stellen.
Sie identifizieren dabei ein Gemisch aus Wut und Egoismus, eine Reaktion auf zahlreiche Frustrationserfahrungen und einem Wunsch nach der so genannten heilen Welt von früher.
Amlinger und Nachtwey gehen aber noch weiter und führen einen neuen Begriff ein, den „libertären Autoritarismus“. Er ist für die beiden eine Folge der Freiheitsversprechen der Spätmoderne: Mündig soll er sein, der Einzelne, dazu noch authentisch und hochgradig eigenverantwortlich. Gleichzeitig erlebt er sich als zunehmend macht- und einflusslos gegenüber einer komplexer werdenden Welt. Das wird als Kränkung erfahren und äußert sich in Ressentiment und Demokratiefeindlichkeit.
Auf der Grundlage zahlreicher Fallstudien verleihen Amlinger und Nachtwey dieser Sozialfigur Kontur. Sie erläutern die sozialen Gründe, die zu einem Wandel des autoritären Charakters führten. Die Spätmoderne bringt einen Protesttypus hervor, dessen Ruf nach individueller Souveränität eine Bedrohung ist für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen. Libertäre Autoritäre fühlen sich nicht mehr an soziale Normen gebunden und rebellieren gegen Autoritäten; sie setzen „ihre“ Freiheit absolut und reagieren mit Wut und „Erbitterung“ auf andere. Das Gemeinwohl scheint ihnen vollständig aus dem Blick entschwunden.
„Die Freiheit der Zukunft braucht Solidarität!“
Am Ende dieser einleuchtenden Untersuchung setzen die Autoren dem wütenden Egoismus die alte Einsicht gegenüber: „Die Freiheit der Zukunft braucht Solidarität!“ Ein Aufruf, der bei den herrschenden Verhältnissen so notwendig ist wie schon lange nicht mehr.
Ernst Fischer
TIPP:
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