Der Geist weht, wo er will
Gedanken zu einem Text aus dem alttestamentlichen Buch Numeri
Der Herr kam in der Wolke herab und redete mit Mose. Er nahm etwas von dem Geist, der auf ihm ruhte, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Sobald der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in prophetische Verzückung, die kein Ende nahm. Zwei Männer aber waren im Lager geblieben; der eine hieß Eldad, der andere Medad. Auch über sie war der Geist gekommen. Sie standen in der Liste, waren aber nicht zum Offenbarungszelt hinausgegangen. Sie gerieten im Lager in prophetische Verzückung. Ein junger Mann lief zu Mose und berichtete ihm: Eldad und Medad sind im Lager in prophetische Verzückung geraten. Da ergriff Josua, der Sohn Nuns, der von Jugend an der Diener des Mose gewesen war, das Wort und sagte: Mose, mein Herr, hindere sie daran! Doch Mose sagte zu ihm: Willst du dich für mich ereifern? Möge doch einer geben, dass das ganze Volk des Herrn zu Propheten wird, wenn der Herr seinen Geist auf sie legt!
Numeri 11, 25-29
Das 4. Buch Mose oder Buch Numeri beruht auf Aufzeichnungen schon aus dem 14. Jahrhundert vor Christus und ist wohl im 6. Jahrhundert v. Chr. in der heutigen Form zusammengestellt worden.
Mich bewegen zwei Narrative, die hier angedeutet werden:
- Die Wüstenwanderung des Volkes Israels mit Mose an der Spitze ist kein Ein-Mann-Unternehmen mehr. Gott selbst verteilt seinen Geist auf 70 alte und weise Menschen. Heute würde man von Delegation von Aufgaben sprechen, die bis dahin ein einziger übernommen hat. Die neue Glaubensbewegung der Israeliten wird kollegial umstrukturiert. Sie sind hervorgehoben durch ihre Aussendung in dem so genannten Stiftszelt. Man könnte sie modern gesprochen als Hauptamtliche, als Funktionäre ansehen.
Die Wüstenwanderung des Volkes Israels mit Mose an der Spitze ist kein Ein-Mann-Unternehmen mehr.
Diese 70 sind nun berufen und qualifiziert, allerdings ohne Theologiestudium und ohne Priesterweihe. Sie sprechen und handeln nicht als Gesetzeslehrer, sondern prophetisch. Sie motivieren das Volk, das zunehmend murrt ob der Beschwernisse der langen Wüstenwanderung. Sie erinnern es an ihre positiven Erfahrungen mit ihrem Gott, die sie als alte Menschen selbst erlebt haben.
„Der Geist weht, wo er will!“
- Und dann gibt es noch zwei Junge, die nicht bei der Aussendung im Stiftszelt dabei waren und denen trotzdem der Geist Gottes gegeben wurde. Sofort sind sie ein Ärgernis. Josua, der designierte Nachfolger Mose, denkt wie ein Funktionär, er verteidigt die bestehende Ordnung und sieht Gefahren. „Da könnte ja jeder X-Beliebige daherkommen und für Gott reden, wo kämen wir dahin“, könnte er gesagt haben. Mose aber reagiert anders. Sinngemäß nimmt er das 700 Jahre später entstandene Zitat aus dem Johannes-Evangelium vorweg: „Der Geist weht, wo er will!“ Ich verstehe Moses Aussage so: Ich gebe dir Raum, ich höre dir zu, ich lasse zu, dass du als „Laie“ deine Sicht einbringst. Ich übertrage dir aber auch eine Mitverantwortung. Mose wird so zum Ermöglicher. Ja mehr noch. Er hat eine Vision: Das ganze Volk sollte so vom Geist beseelt sein, alle sollten sich einbringen.
Ernst Fischer