Das Märchen von der Quadratur des Kreises und der Macht
"Es lebte einmal ein begnadeter Mathematiker. Der zeichnete in einem Gedankenblitz ein vollendetes Quadrat und einen wunderschönen Kreis in einer Form. Er nannte sein Bild: Die Quadratur des Kreises.
Der König war angetan von dieser Anmut und bestimmte: Von nun an soll in meinem Königreich gelten, dass jedes Quadrat gleich einem Kreise sei. Und er sandte Gelehrte in alle Teile seines Landes, um diese Wahrheit zu verkünden.
Einer dieser Gelehrten übernachtete nach Jahren der mühevollen Wanderung bei einem Grafen. Dieser schlug ihm vor, eine einzige Ecke des Quadrats mit einer spitzen Feder in einen kleinen Bogen umzuwandeln. Es spreche die Menschen mehr an, ohne den Inhalt im Wesen zu ändern. Es sei auch zeitgemäß, weil es neue Lehren der letzten Jahre mit den alten Gewissheiten verknüpfe. Als der Gelehrte dem nach reiflicher Überlegung zustimmte und seine Adaption bekannt wurde, wurde er noch am selbigen Tage auf den Marktplatz der Reichshauptstadt gebracht. Dort blieb er einen Tag und eine Nacht an einen Pranger gekettet, weil er das Gesetz des Königs missachtet hatte, an dem keine Jota verändert werden dürfe.
Mir träumte, dass ein Wunder geschah und sich sieben weitere Gelehrte des Königshofes um ihn herum versammelten und Wache hielten, dass ihm kein weiterer Schaden geschehe."
Ernst Fischer, 2019