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02.10.2025 · Ernst FIscher

Gemeinsinn

Mit dem Wort ist auch über Jahrzehnte seine Bedeutung in großen Teilen der Bevölkerung in Vergessenheit geraten. Seit Geraumen erlebt es eine Renaissance.

Die Begriffe Gemeinwohl und Gemeinsinn haben in den letzten Jahren überraschend neues Interesse geweckt. Sie sind zu konstanten politischen Leitbegriffen mit großer Attraktivität u. a. für politische Akteure geworden, wenn es zum Beispiel um Bürgerengagement geht.

Auch erhebt sich kaum ein Widerspruch, wenn, bedingt durch eine immer radikaler werdende Individualisierung der Gesellschaft, von einem Appell an die Verantwortung für das Gemeinwesen gesprochen werde. Auch das letzte gemeinsame Buch von Jan und Aleida Assmann im Jahr 2024 hat den Titel „Gemeinsinn“.

Gemeinwohl ist ein in hohem Maße deutungsoffener und inhaltlich umkämpfter Begriff

Gemeinwohl ist ein in hohem Maße deutungsoffener und inhaltlich umkämpfter Begriff – obwohl er gerne als gesellschaftspolitisches Ziel ausgegeben wird. Es ist ein Begriff, über den wir uns als Gesellschaft verständigen müssen, auch wenn wir gänzlich unterschiedliche Perspektiven auf ihn haben. Wir alle geben also bildlich „Fleisch an die Knochen“, wenn wir über das Gemeinwohl sprechen.

Bei Gemeinsinn handelt es sich zunächst um eine Lehnübertragung zu lateinisch "sensus communis", die besonders in philosophischen Schriften der Aufklärung präsent ist. Zuvor ist bereits die Wortverbindung gemeiner Sinn in entsprechender Bedeutung belegt. Ab dem 18. Jahrhundert ist für Gemeinsinn daneben die Lesart gesunder Menschenverstand nachweisbar, die unter Einfluss des englischen "common sense" entsteht. Jünger ist die Bedeutung Sinn und Einsatz für das Gemeinwohl, die ihrerseits von dem älteren Gemeingeist, einer Lehnübersetzung zu englisch "public spirit" beeinflusst ist (Zentrum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache).

Gemeinwohl hat immer etwas mit Gerechtigkeit zu tun

Gemeinwohl kommt aus der griechischen Staatslehre und gilt als wichtige Wurzel der europäischen Gemeinsinn- und Gemeinwohlkonzeption. Gemeinwohl hat dort immer etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Sowohl Platon als auch Aristoteles unterscheiden einen Eigennutz von einem Gemeinnutz. Wobei der gemeine Nutzen letztlich am Wohl der Untertanen bzw. im heutigen Sprachgebrauch der Bürger/-innen festgemacht wird. Das Wohl des Ganzen wurde mit dem Wohl der Mitglieder gleichgesetzt.

Jan und Aleida Assmann zeigen zum Beispiel nicht nur, dass die Gesellschaft einer großen Idee der geteilten Humanität verpflichtet ist, die sich oft in sehr kleinen Taten zeigen kann, sondern auch, wie unumgänglich sie ist, wenn man über die menschenfeindlichen Alternativen nachdenkt, die wir aus der Geschichte kennen.

Auch warnen sie vor falsch verstandenen Identitätspolitiken: Identitäre Formen der Gemeinschaftsbildung, die auf die Ausgrenzung eines „Anderen“ angewiesen sind, wirken stets kontraproduktiv; das Gemeinsame muss sich auf alle Menschen ausdehnen lassen, also letztlich einem universalistischen Ideal verpflichtet sein.

Gemeinsinn ist nicht das Gegenteil von Individualismus, sondern das Gegenteil von Egoismus.

Gemeinsinn bedeutet nicht vordringlich, sich ein- und unterzuordnen, sondern den Anderen einzubeziehen. Er ist nicht das Gegenteil von Individualismus, sondern das Gegenteil von Egoismus und fordert ein Denken in größeren Zusammenhängen und Bindungen.

Das Wort beschwört gewissermaßen ein Integrationspotential herauf. Es apelliert an uns, Zuhören, Respekt und Empathie zu trainieren und die Vielfalt zusammenzuhalten.

Ubuntu- "Ich bin, weil wir sind."

Zum Schluss ein Blick über unsere Grenzen nach Afrika: Ubuntu ist eine afrikanische Philosophierichtung. Das Wort stammt aus den afrikanischen Bantusprachen und es hat eine komplexe Bedeutung. Im Deutschen kommt ihm eine Essenz aus den Begriffen Gemeinschaft, Miteinander, Güte, Großzügigkeit, Mitgefühl und Solidarität am nächsten. Ubuntu heißt übersetzt „Ich bin, weil wir sind“.

Ernst Fischer

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