Begriffsaneignung: Ich leite eine Ära ein!
Es gibt einen neuen Trend auf TikTok
Es gibt einen neuen Trend auf TikTok, der sich zunehmender Beliebtheit erfreut: „In my Era“. Dabei feiern Nutzerinnen und Nutzer für sie einzigartige Aspekte eines bestimmten Moments in ihrem Leben oder auch ganz normale Lebensphasen. Es gibt die „Girlboss-Ära“, die „Family planing era“ oder auch nur „meine faule Ära“.
Warum spreche ich auf diese Nachricht so an? Sprache verändert sich, Bedeutungen werden andere; also, was soll’s, wenn die Millennials und die Generation Z das Wort „Ära“ nun für sich gefunden haben?
Ära - ein Zeitabschnitt der Weltgeschichte?
Landläufig und in den Wörterbüchern meint „Ära“ immer noch einen Zeitabschnitt der Weltgeschichte, oder eine Zeitspanne, die durch eine Person oder ein Ereignis so bestimmt wurde, dass sie das Leben vieler Menschen nachhaltig geprägt (und vielleicht sogar verändert) hat.
Die neue Beliebtheit in den sozialen Medien wird zu einem Kennzeichen unserer postmodernen Gesellschaft. Diese neue Verwendung ersetzt dicke Wälzer aus der Sozialpsychologie und bringt umfangreiche soziologische Studien auf den Punkt:
Der neue Gebrauch: ein Kennzeichen unserer postmodernen Gesellschaft
ICH bin eine Ära und die Hauptperson meines Lebens und damit Mittelpunkt für alle, die daran teilhaben (dürfen, müssen?). Es bedarf dazu keiner außergewöhnlicher Eigenschaften, jede und jeder kann eine Epoche einleiten. Was grundsätzlich als Ausdruck für die Gleichheit aller Menschen dienen könnte, ist aber in Wirklichkeit Ausdruck einer extremen Ichbezogenheit, die durch die zunehmende Individualisierung unserer Gesellschaft gefördert wird. Ich halte diese Abart des Narzissmus für gefährlich, weil sie die Mitmenschen zu Objekten des eigenen Lebens macht, zu Komparsen in meinem Lebenstheater. Solidarität und Caritas sind nur noch dann opportun, wenn sie mir zugutekommen.
Und dann ist da noch die Hybris der postmodernen Gesellschaft. Wenn irgendeine beliebige Zeitspanne irgendeines Lebens schon als Epoche, als Zeitalter betitelt wird, wird klar, welche Selbstüberhöhung vorausgegangen sein muss. Bescheidenheit, Verzicht, Einschränkung oder gar Demut gelten dann nicht nur als veraltete Wörter, sondern als Haltungen, die out sind.
Und schließlich: Hat man jahrhundertelang eine Ära erst im Nachhinein erkennen können, an den Auswirkungen, die menschliches Leben oder Gesellschaften verändert haben, so spielt im TikTok-Gebrauch die Vergangenheit (und auch die Zukunft) keine Rolle: Jetzt ist meine Zeit! Ein Lernen aus den Fehlern der Vergangenheit oder ein planvoller Blick auf Zukunftsvisionen? Uninteressant!
Was mit Menschen und Gesellschaften passiert, die sich selbst überhöhen, kann man übrigens schon in der 3000 Jahre alten Geschichte vom Turmbau von Babel nachlesen.
Ernst Fischer